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Eine Reportage des SZ-Magazins.

Alle reden vom Klimawandel, von schmelzenden Gletschern, heißen Sommern und Wirbelstürmen. Um den Regenwald in Südamerika, einst das liebste Sorgenkind der Umweltschützer, ist es still geworden. Heißt das etwa, ihm geht es heute besser? Wir sind ins Herz des Dschungels gefahren und widmen dieser Expedition ein ganzes Heft. Ein Bericht aus Amazonien, der leider wenig Hoffnung macht.  

von Rainer Stadler, Süddeutsche Zeitung Magazin, 24.8.06  

Als unser Bootsführer nach zwei Stunden Fahrt den Motor ausschaltet, um Benzin nachzufüllen, wird zum ersten Mal klar, was der brasilianische Regenwald wirklich ist: Stille.  

4,1 Millionen Quadratkilometer Stille. Kein tropisches Tollhaus, wie man es aus dem Zoo kennt oder den Tier- und Abenteuerdokus im Fernsehen: kreischende Papageien, schreiende Affen, heulende Wildkatzen. Auf dem Rio Negro, fünfzig Kilometer stromaufwärts von Manaus, summen nicht einmal die Mücken. Eine ganz und gar unerwartete Ruhe umgibt uns im Herzen des größten Dschungels der Erde. Verwirrt beginnt das Gehirn zu suchen nach irgendeinem Geräusch, dem Knarren eines Baumes am Ufer, dem Flügelschlag eines Vogels, dem Gluckern eines Wasserstrudels, dem zarten Hauch des Windes. Aber der stoische Wald und sein Fluss verweigern jedes Lebenszeichen.  

Der Kontrast könnte kaum größer sein: soeben noch am Hafen von Manaus, typische Dritte-Welt-Stadt, dreckig, laut, überall Lautsprecher, die Latinomusik und die neuesten Sonderangebote auf die Straßen hinausbrüllen. Lautsprecher sogar vor den Kirchen, aus denen am Sonntag frühmorgens die Predigt dröhnt. Und nun auf dem Rio Negro eine Stille, wie man sie sonst nur in der Wüste erlebt.  

Der Rio Negro: einer der größten unter den 1100 Amazonas-Nebenflüssen, dreißig Kilometer breit an manchen Stellen. Links und rechts vom Boot zeichnet sich in blassem Grün der Wald am Ufer ab, der aus zwei oder drei Kilometern Abstand abweisend wirkt wie eine undurchdringliche Wand. Nach vorne Wasser bis zum Horizont, Wasser und Himmel, ein Ausblick wie auf dem offenen Meer. Die Regenzeit neigt sich dem Ende zu, der Wasserspiegel ist seit der verheerenden Dürre im Amazonasbecken vor zehn Monaten um 17 Meter gestiegen. Eben kam wieder ein Guss vom grauen Himmel, eine warme Dusche, bei dreißig Grad Lufttemperatur. Wir werden nass bis auf die Haut und schwitzen trotzdem.  

Etwas später erreichen wir unser Quartier, eine leer stehende Urwaldlodge am Ufer eines Seitenarms des Rio Negro. Die Sonne hat einige Lücken in die Wolken gefressen, der ganze Wald dampft und tropft. Direkt hinter der Lodge wuchert Dickicht, das gleichzeitig zu verrotten scheint. Schimmelgeflechte und Moose haben Bäume, Sträucher und Blätter in allen Farben überzogen, weiß, rot, grün, braun, schwarz. Dicke Lianen winden sich um die Stämme wie Würgeschlangen um ihr Opfer. Das diffuse Licht an diesem Tag unterstreicht den morbiden Charakter der Landschaft. Selbst bei strahlend blauem Himmel würde das Blätterdach der vierzig, fünfzig Meter hohen Bäume die meisten Sonnenstrahlen wegfiltern.  

Die Tierwelt präsentiert sich an Land kaum üppiger als zu Wasser, mit Ausnahme der absurd fleißigen Ameisenheere. Den ganzen Abend über ist nicht mehr zu hören als Froschgequake und vereinzelt der gellende Schrei des Tukans - ein schwarzer Spechtvogel mit einem überdimensionierten, bunten Schnabel. Henry Walter Bates, einer der großen britischen Naturforscher, schrieb 1863, die seltenen Schreie der Vögel verstärkten eher noch »das Gefühl der Einsamkeit« im brasilianischen Amazonasgebiet, »als dass sie ihm einen Hauch von Leben und Heiterkeit verleihen würden«.  

Der Mensch hat den Wald schon immer verehrt und gefürchtet: als Inbegriff der Natur, als Gegenwelt zur Zivilisation, als Heimat der Geister und Götter. Im Amazonas-Regenwald kommt noch hinzu, dass seine ungebändigte schöpferische Kraft keine Grenzen zu kennen scheint. Auf der Erde gibt es nur wenige Orte, die dem Menschen so deutlich vor Augen führen, wie klein und vergänglich er ist: das Himalaja-Gebirge, die Wüsten der Sahara, die Antarktis und eben der Amazonas-Regenwald. Die tiefe Ehrfurcht, die den Menschen bei ihrem Anblick erfüllte, drückt sich in den zahllosen Mythen aus, die sich um diese Orte ranken, und in den Beinamen, die er ihnen gab: Dach der Welt. Ewiges Eis. Grüne Hölle.  

Der Anlass unserer Reise an den Amazonas war vor allem die merkwürdige Stille in Deutschland gewesen, eigentlich in der ganzen westlichen Welt. Wer spricht heute noch über den Regenwald? Und: Wie geht es ihm überhaupt?  

Vor zwanzig Jahren schossen noch überall die Regenwaldvereine aus dem Boden. Man entdeckte den Amazonas als Paradies, wenngleich nur aus der Ferne. Besorgte Menschen, von denen die wenigsten je einen Fuß auf südamerikanischen Boden gesetzt hatten, schenkten einander zu Weihnachten Patenschaften für Tropenbäume oder einen Quadratmeter Dschungel. Es ist keine zehn Jahre her, dass die Deutschen auf die Frage nach ihren größten Ängsten die Abholzung der Regenwälder nannten - vor Arbeitslosigkeit, Kriminalität und Flüchtlingsströmen aus dem Ausland.  

Heute glaubt nur noch eine deutsche Privatbrauerei ihr Image mit dem Regenwald aufpolieren zu können. Aus der öffentlichen Diskussion ist das Thema praktisch verschwunden. Die Experten reden vom schmelzenden Eis in den Alpen und der Antarktis, die Zeitungen haben den Amazonas in die Randspalten verbannt. Ende März hieß es wieder einmal: »Klimawandel und Kahlschlag könnten weite Teile der süd-amerikanischen Amazonasregion trockenlegen. Das fürchtet die Umweltstiftung World Wide Fund for Nature.« Ein Zweizeiler zum möglichen Untergang des größten zusammenhängenden Regenwaldes der Erde. Die Menschen haben sich an solche Untergangsszenarien gewöhnt und glauben zu wissen, dass sie ohnehin nicht eintreten.  

Von der Kabine unseres kleinen Propellerflugzeugs aus unterscheidet sich die Gegend um Santarém kaum von Schleswig-Holstein oder Niederbayern: Ackerflächen bis zum Horizont, dazwischen Waldstreifen. Manche dieser Streifen sind kaum breiter als Hecken, auffällig oft stehen sie am Straßenrand, so als versuchte jemand, die gerodeten Flächen dahinter zu verbergen. Einzelne Paranussbäume ragen aus den grünen Feldern und wirken so, als hätten sie sich verirrt. Zwei Stunden kreisen wir über der Region, nur einmal sehen wir eine geschlossene Waldfläche: Es ist der Tapajós-Nationalpark.  

Ein Gesetz verbietet den Landbesitzern, mehr als zwanzig Prozent der Bäume auf ihrem Grund zu fällen. Daran hält sich offensichtlich kein Mensch. Das Abholzungsverbot für Paranussbäume wird auch nur respektiert, weil die Bauern wissen, dass sich das Problem von selbst erledigt: Schutzlos dem Wind und der Sonne ausgesetzt, überleben die Bäume meist nicht lange.  

Santarém hat 200000 Einwohner und liegt am wuchtigen Rio Tapajós, der sich hier mit dem Amazonas vereinigt. Eine typische Stadt für diese Gegend, mit bunten Kolonialbauten, Jugendstilhäusern, die während des Kautschukbooms entstanden, zeitlos hässlichen Betonklötzen - und Holzhütten am Stadtrand. Meist sind es Kleinbauern, die dort auf engstem Raum mit Kindern, Eltern und Großeltern zusammenleben. Sie haben ihr Land an Großgrundbesitzer verkauft oder sind einfach vertrieben worden, endeten jedenfalls an einem Ort, wo es für sie nichts zu tun gibt. An den meisten Häusern wuchern Moose, Flechten, Schimmel. Schwarze Geier prägen das Stadtbild, sie sitzen auf Mülltonnen und Mobilfunktürmen. Als wir den Flughafen ansteuern, sehen wir ein weiteres Wahrzeichen der Stadt, die sich in den letzten Jahren zu einem Zentrum des brasilianischen Sojahandels entwickelt hat: das Frachtterminal der amerikanischen Firma Cargill. Nicht nur Umweltschützer meinen, seine Größe lasse keinen Zweifel: Die Amazonas-Niederlassung des Agrarkonzerns hat hier vorgebaut für weiter wachsende Umsätze im weltweiten Sojageschäft.  

Zwischen 1990 und 1995 wurden im brasilianischen Regenwald Jahr für Jahr 14000 Quadratkilometer gerodet. In den folgenden fünf Jahren waren es bereits durchschnittlich 20000, zwischen 2001 und 2004 sogar je 24000 Quadratkilometer. Das entspricht etwa der Fläche von Mecklenburg-Vorpommern. Der Export von Tropenholz spielt heute kaum noch eine Rolle, das Geld sprudelt aus anderen Quellen: Brasilien ist inzwischen der weltgrößte Exporteur von Rindfleisch und Soja. Anfang der Neunzigerjahre grasten im Amazonasgebiet noch zwanzig Millionen Rinder, 15 Jahre später war die Herde auf sechzig Millionen angewachsen. Vergange-nes Jahr lieferten die Südamerikaner zwanzig Millionen Tonnen Soja in die Welt.  

Seinen Aufstieg verdankt das Land nicht zuletzt der BSE-Krise in Europa. Der Ausbruch der Tierseuche ließ die Nachfrage nach brasilianischem Rindfleisch in die Höhe schnellen. Zugleich suchten die europäischen Bauern nach einem Ersatz für Tiermehl, dessen Verfütterung die Behörden verboten hatten - und fanden ihn auf den Sojaplantagen im Amazonas-Regenwald.  

Seit 1960 wurde knapp ein Fünftel des Waldes abgeholzt, mehr als zweimal die Fläche von Deutschland. Wenn der Kahlschlag im selben Tempo weitergeht, wird bis 2050 fast die Hälfte des brasilianischen Regenwalds vernichtet sein. Wahrscheinlich kommt es noch schlimmer: Der weltweite Hunger nach Fleisch ist längst nicht gesättigt, aufstrebende Länder wie China verlangen nach mehr. In Zeiten explodierender Ölpreise hat der Westen zudem begonnen, seinen Durst nach Biokraftstoffen am Amazonas zu stillen. Biodiesel aus Soja.  

»Man müsste keinen weiteren Baum am Amazonas fällen«, sagt Alfredo Homma, Ökonom am Embrapa, dem Forschungsinstitut des brasilianischen Agrarministeriums. Den Landwirten stünden bereits siebzig Millionen Hektar offene Flächen zur Verfügung - das sei mehr als genug. Es gibt nur ein Problem, fügt er hinzu: »Einen Hektar ausgelaugten Boden so weit zu pflegen, dass er wieder bebaut werden kann, kostet 800 brasilianische Real. Einen Hektar Wald abzuholzen kostet 350 Real. Den Wald niederzubrennen kostet ein Streichholz.«  

Achtzig Kilometer nördlich von Manaus, im Regenwald: Kurz nach Mittag, 28 Grad Lufttemperatur, neunzig Prozent Luftfeuchtigkeit, der Schweiß perlt und will nicht trocknen in dieser natürlichen Sauna. Vor uns breitet sich ein Teppich aus totem Laub aus, durchzogen von einem Geflecht aus Wurzeln. Faustdicke und haardünne Wurzeln, rote, gelbe, braune Wurzeln, die nur wenige Zentimeter in den Boden reichen oder gleich über der Erde wuchern. Manche haben sich in umgestürzte Baumstämme oder abgestorbene Stümpfe hineingebohrt.  

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