Die Rechte Indigener sollten in Brasilien stark beschränkt werden. Nun hat der Oberste Gerichtshof dagegen entschieden. Warum die historische Entscheidung auch eine gute Nachricht für den Wald ist.
22.09.2023 | von Christian Neeb
Vor dem Gerichtsgebäude in Brasília ist der Jubel groß. Denn hinter der futuristischen Fassade des Supremo Tribunal Federal haben die obersten Richter*innen Brasiliens dem zerstörerischen Hunger der Agrarlobby eine Absage erteilt. Ein Gesetz des brasilianischen Parlaments sollte die Rechte indigener Völker beschneiden. Um mehr Landwirtschaft zu ermöglichen. Richterin Cármen Lúcia begründete das wegweisende Urteil dagegen mit der "unbezahlbaren Schuld der brasilianischen Gesellschaft gegenüber den ursprünglichen Völkern".
Im Mai 2023 hatte eine Mehrheit des brasilianischen Parlaments für eine Gesetzesinitiative PL490 mit der Regelung „Marco Temporal“ gestimmt. Ihr Ziel: die Begrenzung der Ausweisung von Schutzgebieten für Indigene.
Der „Marco Temporal“, übersetzt in etwa „Stichtag“, ist eine rechtliche Lücke in der brasilianischen Verfassung. Dort steht, dass Indigene Recht auf das Land haben, das sie traditionell bewohnen und nutzen. Doch ein Stichtag, wann sie dort gelebt haben sollen, ist nicht genannt. Die Gesetzesinitiative sah vor, indigenen Völkern das Recht auf ihr Land zu entziehen, sollten sie dort nicht vor dem 5. Oktober 1988 bereits gelebt haben. Dieses Datum wurde gewählt, weil es der Tag ist, an dem die brasilianische Verfassung in Kraft getreten ist.
283 Abgeordnete stimmten für das Gesetz, 155 dagegen. „Dahinter steckte die mächtige Agrarlobby des Landes“, sagt Lioba Schwarzer, politische Referentin von OroVerde. „So wollte sie mehr Anbauflächen für sich gewinnen und hat dafür Anspruch auf Herkunftsregionen indigener Völker erhoben.“

Dahinter steckte die mächtige Agrarlobby des Landes. So wollte sie mehr Anbauflächen für sich gewinnen und hat dafür Anspruch auf Herkunftsregionen indigener Völker erhoben.
Die brasilianische Regierung unter Präsident Inácio Lula da Silva nannte die Initiative „gesetzmäßigen Völkermord“. Das Gesetz hätte weniger Raum für Menschen indigener Abstammung bedeutet. Und mehr Raum für Sojaanbau, Rinderweiden, für Bergbau und Infrastruktur. Das hätte auch Folgen für den Amazonas und andere gefährdete Ökosysteme Brasiliens gehabt. Die Entwaldung wäre in noch größerem Maße vorangeschritten, noch mehr Arten wären verloren gegangen. Denn gerade indigene Territorien haben einen großen Anteil der verbliebenen Biodiversität auf dem Kontinent. „Und nicht nur das“, sagt Lioba Schwarzer. „Das Gesetz hätte auch den Kontakt mit isolierten indigenen Völkern ermöglicht.“
Das Gesetzesvorhaben war auch eine direkte Attacke des mehrheitlich konservativ besetzten Parlaments auf die Reformpläne da Silvas. Der hatte umgehend mit einem Aktionsplan zum Schutz des Regenwaldes reagiert und verkündet: „Ich bin entschlossen, Brasiliens globale Führungsrolle bei der Eindämmung des Klimawandels und der Kontrolle der Entwaldung wieder aufzunehmen.“
Wie geht es jetzt weiter?
Die Abstimmung ist zwar abgeschlossen, vor dem finalen Erfolg der Indigenen in Brasilien stehen aber noch einige Hürden.
„Zum einen wird der Gesetzesentwurf noch im brasilianischen Senat verhandelt“, sagt Schwarzer. „Theoretisch findet die Abstimmung dort am 27. September statt. Da nun aber der Kern des Gesetzes, der ‚Marco Temporal‘, vom Obersten Gerichtshof als verfassungswidrig erklärt worden ist, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass der Gesetzesentwurf nun so gar nicht mehr auf die Tagesordnung kommt.“
Das wäre zwar gut, aber die Agrarlobby wird kaum klein beigeben. „Zwei der Richter haben Vorschläge eingebracht, die für die indigenen Völker ebenfalls gefährlich werden könnten“, sagt Schwarzer. Dabei geht es um Entschädigungszahlungen für Agrarunternehmen, die nun nicht mehr auf indigenem Land wirtschaften können. Und um eine mögliche Ressourcennutzung auf indigenem Land, um die wirtschaftliche Entwicklung Brasiliens zu fördern. „Wir müssen weiter wachsam sein“, sagt Schwarzer.
Fotonachweis: Elke Mannigel (Sonennuntergang), Oberster Gerichtshof Brasiliens (©Von Everton137 - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=10156524), Özi's Comix Studio (Landschaft)