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Nüchtern liest sie sich – die Feststellung in Kreol auf den Mauerresten am Straßenrand von Petit Bourg du Borgne im Norden Haitis. Doch angesichts der vielen Krisen des Inselstaates beschreibt sie mehr als treffend den Alltag der Menschen im KlimaWald-Projekt von OroVerde. Es fehlt an Allem. Aber es gibt auch Lichtblicke.

17.05.2023 | Interview von Kerstin Weinhold

Haiti kommt nicht zur Ruhe. Ausschreitungen und Bandenübergriffe sind an der Tagesordnung, vor allem in und um die Hauptstadt Port-au-Prince. Seit der Ermordung von Präsident Jovenel Moïse vor zwei Jahren verschärfen sich die Konflikte. Auch wirtschaftlich erholt sich der karibische Inselstaat seit dem schweren Erdbeben 2010 nur schleppend. Wir von OroVerde wollen die Menschen mit dem KlimaWald-Projekt unterstützen – gerade wegen der schwierigen Bedingungen und den Folgen des Klimawandels in diesem gebeutelten Land. Projektleiter Johannes Horstmann und Jonas Baumann, im Team zuständig für Haiti, haben erst vor kurzem den Norden und Südosten Haitis bereist. Dort befinden sich die Projektregionen von Concert-Action und der Welthungerhilfe Thiotte, beide KlimaWald-Partner. Sie widmen ihre Arbeit der Unterstützung von Kleinbauern-Familien, der Stärkung der natürlichen Vielfalt in Ökosystemen und nicht zuletzt dem Erhalt der Schönheit der Natur.

Welcher Anblick bietet sich, wenn man nach Haiti kommt? Wie klingt Haiti?

Johannes Horstmann [JH]: „Viel Grün, mehr als man gemeinhin vermutet, vor allem im ländlichen Raum, wo wir für KlimaWald unterwegs sind, und das Türkisblau der karibischen Küsten. Im Kontrast dazu – durch die holprigen, unbefestigten Straßen und die Trockenheit – sieht man viel Braun und häufig eine Art weißgrauen Schleier. Aufgewirbelter Staub, der sich auf alles legt.

Jonas Baumann [JB]: Für mich ist das Auffälligste, dass überall Menschen unterwegs sind, zu jeder Zeit, selbst im kleinsten Dorf. Anders als in Deutschland auch mehr Kinder und junge Menschen.

JH: In den Städten knattern die Mopeds. Oft hört man Leute rufen oder schreien. Die Geräusche, der Lärmpegel sind schon intensiv. Dann wiederum, wenn Du im Feld ankommst und der Motor verstummt, empfängt Dich eine fantastische Stille und Ruhe. Du hörst entfernt Vogelrufen, einen Hahnenschrei oder das Meckern von Ziegen. Dann ist es plötzlich ganz anders.

Geprägt von Armut

Die Menschen, die am Projekt teilnehmen – wie sieht deren Alltag aus? Wovon leben sie?

JB: Das sind Kleinbauern und -bäuerinnen. Vielfach wird für den Eigenbedarf angebaut und natürlich für den Weiterverkauf auf dem nächstgelegenen Markt.

JH: Mehrere Berufe, verschiedene Einkommensquellen sind nicht unüblich. Ich habe mal einen Lehrer getroffen, der auf dem Weg zu seiner Parzelle war – Ackerbau für die tägliche Portion Reis. Alle versuchen, sich etwas dazuzuverdienen, etwa indem sie Essen am Straßenrand verkaufen, einen kleinen Kiosk betreiben, Second-Hand-Klamotten auf dem Markt anbieten. Die meisten haitianischen Familien kämen ohne Geldsendungen von Verwandten im Ausland oder in der Großstadt nicht über die Runden.

JB: Es ist alles von Armut geprägt. Die Familien müssen erfinderisch sein. Gemeinsam machen sie viele verschiedene Dinge, um zu überleben.

JH: Der Weg zur Arbeit, zum Feld in den Bergen, zum Markt, zur Schule muss in der Hitze meist zu Fuß bewältigt werden. Eigene Fahrzeuge haben die wenigsten. Man sieht häufig Motorrad-Taxis, hin und wieder „Tab-Tab“ genannte Sammeltaxis und Busse. Denn Benzin ist knapp und teuer, oft nur auf dem Schwarzmarkt zu bekommen. Und der Preis, der gerade verlangt wird, wird direkt an die Mitfahrenden weitergegeben. Märkte in größeren Orten, wo es eventuell günstigere Waren oder mehr Abnehmer*innen und bessere Preise für die eigenen Produkte gibt, sind dadurch schwer oder nicht erreichbar. Sehr prekär sind auch die Strom- und Wasserversorgung, in vielen Privathäusern nicht existent. Morgens sieht man viele Menschen, die Wasser holen gehen, an einem öffentlichen Wasserhahn, am Kiosk im Ort oder einer Quelle außerhalb – mit dicken Flaschen oder größeren Kanistern, oft an einem Packesel befestigt. Sauberes Wasser ist ein rares, nur mit Mühen zu bekommendes Gut. Und relativ teuer gemessen am Monatseinkommen.

20 Kilo auf dem Kopf – für die Familie, die Schuluniformen

Wie ist die Situation der Frauen und Kinder?

JH: Die Arbeit der Frauen in den ländlichen Regionen ist extrem beeindruckend, allein schon körperlich, aber auch wie sie das Leben allgemein bewältigen, welche Mühen sie auf sich nehmen. Man sieht sie ständig mit schweren Lasten auf dem Kopf, bis zu 20 Kilo  an Früchten, Wäsche, Trinkwasser, auch Holzkohle oder andere Waren. Sie arbeiten auf dem Feld, bewirtschaften Haus und Hof, kümmern sich um die Kinder, stehen auf dem Markt oder betreiben nebenher ein Büdchen an der Straße.

JB: Die Familien tun ihr Bestes, um die Schulgebühren für ihre Kinder zumindest für ein halbes Jahr aufzubringen. Teilweise versuchen sie dafür sogar, ihre Ernten an den Schuljahresbeginn anzupassen. Dass die Schuluniformen Pflicht sind, aber selbst bezahlt werden müssen, kommt erschwerend hinzu. Zwar werden damit soziale Unterschiede verdeckt, aber die Kosten verwehren vielen Kindern den Zugang zu Schulbildung.

JH: Meine Wahrnehmung war immer, dass es ein schöner Anblick ist, weil ihnen die Uniformen Würde geben. Sie tragen sie mit gewissem Stolz, denke ich. Aber klar, die Kinder derjenigen, die es sich nicht leisten können, siehst Du nicht auf dem Schulweg. Das sind die Kinder, denen wir stattdessen im Feld am Haus der Eltern oder beim Wasserholen an der Quelle begegnen.
 

„Agro! Agro!“

Und wie ist die Situation für die Mitarbeiter unserer Partnerorganisationen?

JB: Die meisten kommen nicht aus den Projektregionen. Das merkt man nicht sofort, denn wenn Du mit dem Team unterwegs bist, hörst Du die Leute immer „Agro, Agro!“ rufen, die Abkürzung für Agronom. Sie sind gerne gesehen, werden mit Handschlag begrüßt. Aber Fakt ist, viele Mitarbeiter arbeiten drei Wochen an einem Ort, wo ihre Partner*innen und Familien nicht sind. Anschließend sind sie eine Woche zuhause. Ihre Kinder wachsen beim anderen Elternteil oder den Großeltern auf. Selbst als gut ausgebildeter Mensch findest Du nur schwer einen Job an einem Ort deiner Wahl und mit der ganzen Familie umzuziehen, ist keine leichte Entscheidung. Hinzukommt nur unregelmäßiger Internetzugang. Das erschwert das Kontakthalten, von der Arbeit für das KlimaWald-Projekt ganz abgesehen.

Das Warten auf den Regen

Mit welchen Bedingungen haben es unsere haitianischen Partner angesichts der Klimakrise zu tun?

JH: Die Trockenheit ist der bedenklichste Faktor, Tendenz steigend. Stärkere Hitzewellen und längere Trockenperioden sind immer wieder zu erwarten. Die Regenzeiten verschieben sich, bringen insgesamt weniger Niederschlag, dafür aber als Starkregen große Mengen in wenigen Stunden. Das macht die Sache schwierig. Das Warten auf den Regen ist für die Kleinproduzent*innen und unsere Partner immer ungewisses Bangen. Der richtige Zeitpunkt für die Aussaat hängt davon ab.

JB: Manche säen schon vor der Regenzeit aus und bewässern, wenn sie Vorräte haben. Das ist aber riskant. Wenn der Regen sich verspätet oder nicht ausreichend fällt, können sich die jungen Pflanzen nicht entwickeln, bringen wenig Ertrag oder gehen ein. Für eine neue Aussaat ist es dann zu spät.

JH: Die Kombination von Bodenerosion und Starkregenereignissen, die für Überschwemmungen, Schäden, Ernteverlusten sorgen und die Böden weiter auswaschen, ist ebenfalls ein großes Problem

JB: Die ungeschützten Böden entstehen durch Abholzung. Typisch für Haitis Gesicht sind die vielen kleinen Rauchsäulen in der Ferne – keine Flächenbrände, vielmehr Feuer zur Holzkohlegewinnung als Energieversorger Nr. 1, offene Kochfeuer oder gezielt gelegte Brände. Mit letzteren werden neue Ackerflächen gewonnen, weil die alten schlecht bestellt wurden, ausgelaugt sind und immer mehr Menschen ernährt werden müssen. Ich habe das selbst an extremen Steilhängen beobachtet, wo teilweise noch Naturwald wächst und der Anbauerfolg mehr als fraglich ist.

Baumschulen und Grenadia-Lauben

Was hilft den Menschen?

JB: Unsere Partner verteilen von Beginn an Setzlinge, die sie in eigenen Baumschulen züchten. Concert-Action legt gemeinsam mit den Teilnehmenden Grenadia-Lauben [dt. Königsgranadilla, Passiflora quadrangularis] an, so dass die Früchte leichter geerntet werden können, auch mehr abwerfen und so zusätzliches Einkommen bringen. Die Welthungerhilfe in Thiotte veredelt u.a. Obstbäume, um ertragreiche Sorten mit widerstandsfähigeren zu kombinieren. Das sichert Erträge oder steigert sie sogar. Es verhindert auch die Verarbeitung der Obstbäume zu Holzkohle. All das hilft den Menschen unmittelbar und in kurzer Zeit.

Gleichzeitig führen die Partner Workshops durch, informieren über bessere Anbaumethoden und Möglichkeiten, Bodenerosionen zu vermeiden. Sie gehen zu den Leuten und in die Schulen, klären über den Klimawandel und seine Folgen auf.

JH: Hauptziel des KlimaWald-Projektes ist die Entwicklung und Umsetzung von naturnahen Lösungen zur Anpassung an den Klimawandel, genauer „ökosystembasierte Anpassung“, so der Fachbegriff [engl. Ecosystem-based Adaptation, kurz EbA]. Es geht um den Erhalt der Ökosysteme und der Funktionalität von Landschaften sowie deren Stärkung unter sich verändernden klimatischen Bedingungen. Denn davon leben die Menschen. Das sichert ihre Lebensgrundlagen. Die Identifizierung entsprechender Maßnahmen erfolgt gemeinsam mit verschiedensten Akteuren. Kleinbauernverbände, Gemeinde-Vertreter*innen, politischen Akteure u.v.a. sind in diesen Prozess eingebunden. Dadurch soll in den Projektregionen ein aktives Netzwerk entstehen und dafür sorgen, dass die Umsetzung der Anpassungsstrategien an die Auswirkungen des Klimawandels konsequent und über das Projektende hinaus verfolgt wird. „Multi-Akteurs-Partnerschaft“ (kurz MAP) wird der Ansatz genannt, den KlimaWald hierfür einsetzt.

Wie geht es weiter bei KlimaWald?

JB: Die bereits ergriffenen Maßnahmen werden natürlich fortgesetzt. Aktuell werden zudem lokale EbA-Pläne erarbeitet, die die eben schon angesprochenen Anpassungsmaßnahmen enthalten. EbA-Pläne kann man sich ein bisschen wie ein Kochbuch vorstellen, also mit Rezepten zum Nachkochen, in diesem Fall zum Übertragen geeigneter Maßnahmen und die Ausweitung auf weitere Gegenden. Die Verankerung der gesamten Anpassungsstrategie in der Bevölkerung und der Politik ist ungemein wichtig, um langfristig Veränderungen zu erreichen, die Mensch und Natur besser auf die Klimafolgen vorbereiten.

Wen braucht es vor Ort für diese Art der Verankerung in den Gesellschaften? Gibt es ein Beispiel für einen solchen Akteur?

JH: Es gibt bei Concert-Action einen Mitarbeiter, der im Projektgebiet in Vallières zuhause ist. Monsieur Jarcaunave St. Fleur heißt er. Sehr beeindruckender Typ, schon etwas älter, hoch motiviert und sehr interessiert. Er hat so einen wachen Blick, ist auch etwas skeptisch-kritisch, bisweilen herausfordernd. Er weiß genau, was er für die Menschen und die Gegend will, und welche Hilfe sie brauchen. Er engagiert sich ehrenamtlich bei KODEV, einer Initiative für nachhaltige Entwicklung in Vallières, die Kleinbauern unterstützt, und ist dort ungemein aktiv. Das Schöne ist, dass man spürt, dass er an die Veränderungen glaubt, denn er sieht die Ergebnisse seiner Arbeit vor Ort, zusammen mit den Menschen seiner Heimat, und weiß, wie wichtig die Unterstützung für sie ist. KODEV wäre so ein Beispiel einer lokalen Organisation, über die die entwickelten Strategien umgesetzt werden und fortbestehen.

Worauf freut Ihr Euch beim nächsten Projektbesuch auf Haiti?

JB: Das Essen ist lecker. Am liebsten habe ich die frittierten Kochbananen. Vor allem aber freue ich mich darauf, mit jeder Reise mehr Fortschritte zu erleben. Wir sind jetzt an einem Punkt, wo eine weitere, intensive Umsetzungsphase beginnt, mit immer mehr Maßnahmen. Und dann im Feld zu stehen und zu sehen, was sich seit dem letzten Mal alles zum Guten verändert hat, das ist einfach schön. So wie bei der letzten Reise der Farmer, der mir stolz und begeistert seine Grenadia-Früchte gezeigt hat. Das Anlegen der Laube hat bei ihm für eine super Ernte gesorgt.

JH: Worauf ich mich am meisten freuen kann: mit den Partnern im Auto haitianische Musik hören – zum Beispiel Compas oder Troubadour, typisch haitianische Musikstile (sehr empfehlenswert! wer mal reinhören will: https://youtu.be/noGmtkKI-pM „Haiti Cherie“ von Jacques Sauveur Jean, oder https://youtu.be/6JxMIPmXGO4  „LAVI“ von Beethova Obas, starke Message!). Auch mit ihnen haitianisch-kreolisches Essen zu teilen. Ansonsten freue ich mich selbstverständlich genauso wie Jonas darauf zu sehen, dass die Arbeit der Partner Früchte trägt, wie etwa Früchte der Obstbaumveredelung erntereif werden, Erosionsbekämpfungsmaßnahmen umgesetzt wurden und gepflanzte Bäumchen angegangen sind. Und, dass die EbA-Pläne von verschiedenen Akteursgruppen als Strategie zur Anpassung an den Klimawandel genutzt werden. Aber dafür braucht es wahrscheinlich noch etwas Zeit und möglichst stabile Rahmenbedingungen, die wir für Haiti aber schon länger herbeisehnen... Dennoch, mit kleinen Schritten geht es voran: „Ti pa, ti pa“, sagt man in Haiti auf Kreolisch dazu…  

VIELEN DANK FÜR DAS GESPRÄCH.

Das KlimaWald-Projekt setzen OroVerde und die Welthungerhilfe bis 2027 im Biologischen Korridor der Karibik um – gemeinsam mit fünf lokalen Partnerorganisationen in Kuba, Haiti und der Dominikanischen Republik.

Förderer Projekt KlimaWald

Das Projekt ist Teil der Internationalen Klimaschutzinitiative (IKI). Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV) fördert die Initiative aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestags.

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Fotohinweis: OroVerde - J. Horstmann (Wäscherin,  Team von Concert-Action), OroVerde - J. Baumann (Titelbild mit Graffiti, Laube von Königsgranadilla, Agroforst, Baumschule), Juliamia / OroVerde (Montage Headerbild)